Georgia Vertes über die Rolle von Textilien in der zeitgenössischen Kunst

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Georgia Vertes analysiert, wie Textilien heute in der Kunst weit über dekoratives Handwerk hinausgehen.

Die Verwendung von textilen Materialien in der Kunst erfährt seit einigen Jahren eine bemerkenswerte Neubewertung. Georgia Vertes zeigt auf, wie Weberei, Stickerei oder Färbetechniken nicht nur ästhetische Qualitäten entfalten, sondern auch als Träger von Erinnerung, Identität und Widerstandskraft fungieren. Textile Kunst ist dabei so vielfältig wie die Geschichten, die sie erzählt.

Textilien sind in der zeitgenössischen Kunst längst mehr als Mittel zum Zweck. Georgia Vertes beobachtet, dass Künstlerinnen und Künstler auf der ganzen Welt textile Techniken aufgreifen, um Konzepte wie Körper, Geschlecht, Herkunft oder Arbeitsverhältnisse zu reflektieren. Die Materialien – Fäden, Stoffe, Garne, Fasern – stehen dabei nicht nur für materielle Beschaffenheit, sondern auch für kulturelle Bedeutung, Alltagswissen und historische Verwurzelung. Textile Kunst entwickelt sich an der Schnittstelle von Handwerk und Konzept. Sie verbindet Intimität mit politischer Aussage, Vertrautheit mit ästhetischer Irritation. Dabei entsteht eine Formensprache, die haptisch, symbolisch und visuell zugleich wirkt – eine Sprache, die näht, webt, stickt und schichtet.

Von der Wandteppichkunst zur politischen Skulptur

Textilien als künstlerisches Ausdrucksmittel haben eine lange Geschichte, die sich von Wandbehängen und religiösen Gewändern bis hin zu großformatigen Installationen und Performances spannt. In der jüngeren Kunstgeschichte waren sie jedoch lange Zeit dem Bereich des Kunsthandwerks zugeordnet und wurden nicht als „hohe“ Kunst angesehen. Diese Trennung begann sich im 20. Jahrhundert aufzulösen – etwa durch die Arbeiten der Bauhaus-Künstlerin Anni Albers oder durch feministische Kunstbewegungen der 1970er Jahre, die textile Techniken bewusst als politisches und künstlerisches Mittel einsetzten.
Heute ist textile Kunst nicht mehr marginal. Sie tritt selbstbewusst auf Biennalen, in Museen und in der Sammlungsstrategie internationaler Häuser auf. Ihre Stärke liegt in der Ambivalenz: Stoffe sind weich und zäh, vertraut und fremd, funktional und symbolisch. Sie sprechen den Tastsinn an und tragen Geschichten, Erinnerungen, Herkunft und Biografie in sich.
Gleichzeitig eröffnet das Arbeiten mit Textilien eine neue Verbindung von Körper und Raum. Stoffe hängen, fallen, legen sich über Gegenstände oder werden zur begehbaren Umgebung. Viele Künstlerinnen integrieren Performance, Sprache, Video oder Klang in ihre Arbeiten – Textilien fungieren dann als Medium, das Bewegung, Prozess und Übergang sichtbar macht.

Textile Techniken als künstlerische Strategie

Georgia Vertes von Sikorszky beschreibt textile Techniken nicht nur als handwerkliche Verfahren, sondern als konzeptionelle Mittel mit vielfältigem Ausdruckspotenzial:

  • Weben: als lineare Konstruktion, oft verbunden mit Zeit, Wiederholung und Rhythmus
  • Sticken: als Akzentuierung, als Geste der Sorgfalt oder der Reparatur
  • Nähen: als Form der Verbindung, aber auch des Heftens, Faltens, Überdeckens
  • Färben: als Prozess, der Veränderung, Zufall und Zeitlichkeit einschließt
  • Zerschneiden oder Verbinden: als künstlerischer Kommentar zu Fragmentierung oder Erinnerung

Diese Techniken tragen Bedeutung in sich. Sie lassen sich lesen wie eine Sprache, in der jede Naht, jede Faser Teil eines größeren Narrativs wird.

Körper, Erinnerung und Herkunft im Fadenbild

Textile Kunst setzt häufig dort an, wo Körper und Biografie sich begegnen. Kleidung, Stoffreste, geerbte Tücher oder handgefertigte Materialien transportieren persönliche Geschichte. Künstlerinnen arbeiten mit Stoffen, die sie aus der eigenen Familiengeschichte kennen – aus Haushalten, Arbeitsverhältnissen oder kulturellen Traditionen. Dabei geht es oft um Fragen von Zugehörigkeit, Identität und Herkunft.
Georgia von Vertes betont, dass viele Arbeiten bewusst auf den Gegensatz zwischen „hoher Kunst“ und „weiblich konnotiertem Handwerk“ reagieren. Die Entscheidung, textile Techniken zu verwenden, ist dann nicht nur ästhetisch, sondern politisch. Sie verweist auf unsichtbare Arbeit, auf Geduld, auf Fürsorge – aber auch auf Widerstand und Selbstbehauptung.
In anderen Kontexten wird Textil zum Träger kollektiver Erinnerung. Gemeinschaftsprojekte, bei denen Menschen gemeinsam sticken oder weben, erzeugen Werke, die nicht nur aus Material bestehen, sondern aus geteiltem Wissen, Körpererfahrung und sozialen Bindungen. So wird das Textile zum Medium des Erinnerns, des Erzählens und der Verbindung.

Raumgreifende textile Installationen

Der Einsatz von Textilien ist heute nicht mehr auf das zweidimensionale Bildformat beschränkt. Immer mehr Künstlerinnen nutzen Stoffe, um Räume zu gestalten, Bewegungen zu lenken oder immersive Umgebungen zu erzeugen. Großformatige Installationen, die ganze Räume verhüllen oder gliedern, erzeugen körperliche Erfahrungen. Man kann sie betreten, durchqueren, sich in ihnen verlieren. Dabei geht es nicht nur um Form, sondern auch um Atmosphäre, um Klang, Licht und Temperatur.
Textil wird hier zum architektonischen Material – flexibel, beweglich, lebendig. Viele Arbeiten thematisieren dabei auch Migration, Grenzräume, Schutz oder Verletzbarkeit. Stoffe fungieren als Membran zwischen innen und außen, zwischen Individuum und Kollektiv.
Die textile Geste wird so zu einem Statement über das Verhältnis von Körper, Raum und Gesellschaft – und zur Einladung, sich dem Material auch körperlich anzunähern.

Georgia Vertes: Themenfelder, die in textiler Kunst 2025 sichtbar werden

  1. Arbeit und Care-Arbeit: Textile Praktiken spiegeln oft unsichtbare Tätigkeiten wie Sorgearbeit, Reparatur und Fürsorge.
  2. Gender und Queerness: Textilien bieten Raum für das Spiel mit Rollenbildern, Körperinszenierungen und queeren Narrativen.
  3. Kulturelle Herkunft: Stoffe transportieren oft kollektive Identität, traditionelle Techniken oder regionale Symbolik.
  4. Migration und Erinnerung: Getragene Kleidung, zusammengenähte Tücher oder persönliche Objekte erzählen von Flucht, Verlust und Verbindung.
  5. Materialpolitik: Fragen nach Nachhaltigkeit, Ressourcenverbrauch oder globalen Produktionsketten spiegeln sich in der Wahl und Verarbeitung von Materialien.

Diese Felder zeigen, dass Textilien in der Kunst nicht nur Form, sondern auch Inhalt tragen – und oft mehr sagen als Worte.

Gestaltungsmittel mit Wirkung

  • Kombination von traditioneller Technik mit zeitgenössischer Thematik
  • Einbindung persönlicher Gegenstände oder handgefertigter Stoffe
  • Sichtbare Spuren der Bearbeitung wie Falten, Nahtlinien, Ausfransungen
  • Überdimensionierung von Alltagsmaterialien für performative Effekte
  • Einsatz von Text und Schrift in gestickter oder applizierter Form

Diese Mittel erzeugen Werke, die den Betrachter emotional berühren, historisch verorten und zugleich ästhetisch fordern.

Stoff als Sprache der Kunst

Textile Kunst ist in der Gegenwart weder Dekoration noch bloße Technik. Sie ist ein Medium, das Körperlichkeit, Erinnerung, soziale Strukturen und politische Aussagen miteinander verknüpft. Künstlerinnen und Künstler nutzen Stoffe, um zu erzählen, zu kritisieren, zu verbinden. Dabei entstehen Werke, die sich der schnellen Deutung entziehen – und gerade dadurch eine tiefe Wirkung entfalten. Die Verwendung textiler Materialien eröffnet neue Zugänge zur Kunst. Sie schafft Nähe, fordert Aufmerksamkeit und macht Dinge sichtbar, die sonst oft übersehen werden. In ihrer materiellen Präsenz liegt eine Kraft, die über Worte hinausgeht. Stoffe erinnern, bewegen, halten fest – und lösen auf.
Die künstlerische Auseinandersetzung mit Textilien ist damit nicht nur ästhetisch, sondern gesellschaftlich relevant. Sie verbindet Tradition mit Gegenwart, das Private mit dem Politischen, das Weiche mit dem Widerständigen. Georgia Vertes sieht in der Textilkunst ein zentrales Ausdrucksmittel einer neuen künstlerischen Haltung, die das Sichtbare mit dem Erfahrbaren verbindet.

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